Unser Wirken als Gesellschaft

Wie beziehen wir andere in unser Wirken mit ein?

Die Realisierung eines Gemeinwohls, das von einer breiten Mehrheit als solches empfunden wird, hängt davon ab, ob es gelingt, die vielfältigen gesellschaftlichen Interessen fair und transparent auszugleichen. Die Art der Kommunikation zwischen den Re-gierenden und den verschiedenen Interessengruppen ist ein Indikator dafür, ob gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Wertschätzung die Realisierung des Gemeinwohls unterstützen oder ein ungesundes Misstrauen unsere Gesellschaft prägen, lähmen und im schlimmsten Fall zersetzen.

Mein Eindruck ist es, dass in der Öffentlichkeit viel übereinander aber wenig miteinander gesprochen wird. Und wenn Regierungsvertreter und solche, die es werden wollen, in öffentlichen Veranstaltungen ihre potenziellen Wählerinnen und Wähler treffen, dann ist von einer Kommunikation auf Augenhöhe fast nie etwas zu spüren. Zwischen den nicht in Regierungsverantwortung stehen-den Bürgerinnen und Bürgern und jenen, denen Regierungsverantwortung übertragen wurde, nehme ich eine hierarchische Abgrenzung wahr. Es scheint so, als würden sich weder die Regierenden noch die Regierungswilligen zu den „gemeinen“ Bürgerinnen und Bürgern zählen, sondern sich als über diesen stehend begreifen.

Führende Repräsentanten aus der Wirtschaft und aus anderen Interessensverbänden stehen den Regierenden näher. Ihre Kommunikation findet allerdings hinter verschlossenen Türen statt. Die Art der Einflussnahme auf politische Entscheidungen ist für die meisten Bürgerinnen und Bürger ein „Buch mit sieben Siegeln“. Eine breite Beteiligung findet nicht statt.

Diese Kommunikationspraxis hat sich über Jahre und Jahrzehnte so „eingeschliffen“. Niemand scheint sie mehr ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Viele haben sich offenbar an den Zustand gewöhnt, dass die einen regieren und die anderen regiert werden. Dabei haben in einem freiheitlich demokratischen Land alle Bürgerinnen und Bürger das gleiche Recht und die gleiche Pflicht, an der Realisierung des Gemeinwohls mitzuwirken. Wir alle sind Leistungsempfänger in unserem Gemeinwesen, wir alle sind Bürgerin oder Bürger, wir alle gehören in der Regel mindestens einer wirtschaftlichen und einer anderen gesellschaftlichen Interessengruppe an. Und selbst dann, wenn wir akzeptieren (müssen), dass nicht jede und jeder von uns unmittelbar in die alltäglichen Regierungsentscheidungen eingebunden werden kann, so muss der Souverän konsequent ein-fordern, in angemessener Weise über Regierungsangelegenheiten und die aktuelle Realisierung des Gemeinwohls auf dem Laufenden gehalten zu werden. Hier sehe ich erhebliche Verbesserungsbedarfe.

Verbesserungsbedarf sehe ich auch bei der Einbindung unserer Partner in der EU und in der NATO. In den letzten Jahren hatte ich oft das Gefühl, dass deutsche Regierungen zwar vehement die Gemeinsamkeit mit den befreundeten Ländern beschwören, viele Entscheidungen mit überstaatlicher Bedeutung allerdings einsam getroffen werden. In diesem Zusammenhang denke ich z. B. an den Umgang mit Asylsuchenden und Kriegsflüchtlingen sowie an den exklusiven deutschen Weg bei der sogenannten Energiewende. Die Überheblichkeit, mit der die Regierenden oftmals den Bürgerinnen und Bürgern entgegentreten, ist leider auch auf internationaler Bühne ein Merkmal „deutscher Diplomatie“.

Einer Person zu attestieren, sie würde „politisch formulieren“, das ist kein Kompliment. Politisch zu formulieren, das bedeutet im allgemeinen Verständnis, zu verschleiern und mit vielen Worten möglichst wenig zu sagen. Diese Art der Kommunikation haben viele Politikerinnen und Politiker perfektioniert. Bedenklich finde ich es, dass selbst in den öffentlich-rechtlichen Medien nur sporadisch das Bemühen erkennbar ist, Fakten zu liefern und auf neutrale Weise die Vor- und Nachteile verschiedener Handlungsoptionen zu verdeutlichen. Stattdessen werden ermüdende Talkrunden mit den immer gleichen Kommunikationsmustern ausgestrahlt und weltweite Nachrichtenschnipsel ohne tatsächlichen Informationswert für unser Gemeinwesen präsentiert.

Die Einbindung der Interessengruppen bei der Realisierung des Gemeinwohls halte ich insgesamt für ungenügend. Leider haben sich viele daran gewöhnt, von Politikern mit Parolen, Ausflüchten und hohlen Werbeslogans abgespeist zu werden – nicht nur vor Wahlen, sondern auch im politischen Alltag. Der Wille, daran etwas zu ändern, ist allerdings weder auf der Regierungsseite noch auf der Bürgerseite ernsthaft zu spüren. Die Einbindung als interessierter Partner der Regierung muss nicht nur ermöglicht, sondern von jeder Bürgerin und jedem Bürger klar und deutlich eingefordert werden. 

Wie ermöglichen wir ein nachhaltiges Gemeinwohl?

Die Meinungen darüber, was im Detail ein nachhaltiges Gemeinwohl auszeichnet, gehen sicher auseinander. Mehrheitsfähig sollte aber die Ansicht sein, dass jeder Bürgerin und jedem Bürger in unserem Gemeinwesen die gleichen Entwicklungschancen ermöglich werden sollten, und niemand in unserem Gemeinwesen dazu verdammt sein darf, die allgemeingültigen Grundbedürfnisse nicht befriedigen zu können. Ein stabiler, werteorientierter und verlässlicher ordnungspolitischer Rahmen sollte es jeder und jedem ermöglichen, die eigene Persönlichkeit zu entfalten und ein nahezu freies, selbstbestimmtes Leben zu leben.

Es gibt meines Erachtens staatliche Aufgaben, die nicht zum Spielball von Koalitionsverhandlungen gemacht, und keiner gesellschaftspolitischen Ideologie geopfert werden dürfen. Dazu gehören die Finanzen, die innere und die äußere Sicherheit des Landes, die Versorgungssicherheit inklusive der notwendigen Infrastruktur so-wie das Bildungs-, das Gesundheits- und das Umweltschutzsystem.

Fehlerhafte Prognosen zu Entwicklungen, Chancen und Risiken in diesen Themenfeldern können zu falschen Weichenstellungen für das Gemeinwesen führen, die das Gemeinwohl nachhaltig beeinträchtigen. Aus diesem Grund kann sich Deutschland weder Ideologen noch Laien an den Schaltstellen jener Ministerien leisten, die für die Ausgestaltung dieser staatlichen Kernaufgaben verantwortlich sind. Die politischen Entscheidungen müssen besonders in diesen Bereichen auf Fakten beruhen, auf der professionellen Analyse von Handlungsoptionen mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen, sowie einem möglichst breiten Konsens zwischen den interessierten Parteien. Im politischen Alltag erleben wir, nach meinem Geschmack zu oft, die Vernachlässigung dieses Grundsatzes. Wie wäre es sonst zu erklären, dass unser Land weder gegen äußere noch gegen innere Bedrohungen angemessen wehrhaft wirkt? Wie wäre es sonst zu erklären, dass wir für unsere Energieversorgung ein bewährtes Mehrsäulensystem aufgeben, bevor wir eine zuverlässige Alternative etabliert haben? Wie wäre es sonst zu erklären, dass wir systemrelevante Infrastrukturdienstleistungen „auf Teufel komm raus“ privatisieren, und die dringend erforderlichen Qualitätsanforderungen erst dann durch nachträgliche Regulierung einfordern, wenn Mängel bei Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Dienstleistungen so offensichtlich zutage treten, dass sie nicht mehr zu verleugnen sind (siehe Bahn, Post und Telekommunikation)?

Gibt es fundierte Prognosen dazu, welche Qualifikationen wir in der Zukunft benötigen? Gibt es einen schlüssigen Plan, wie wir Menschen bilden und ausbilden wollen, um die notwendigen Fertigkeiten und Expertisen rechtzeitig auf- und ausbauen zu können? Oder reden wir nur über fehlende Finanzmittel, Lehrermangel und vermeintliche Fachkräfte, die aus einer ungesteuerten Zuwanderung gewonnen werden können? Vielleicht verlassen wir uns einfach auf die unendlichen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz: wird schon werden, wir schaffen das!

Gebetsmühlenartig fordern Politiker vor Wahlen den Abbau von Bürokratie, um nach der Zusammensetzung einer neuen Regierung mit dem gleichen Eifer wie die Vorgängerregierung unausgereifte Ideen in Gesetzte zu gießen. Dabei scheinen Sinn und Umsetzbarkeit der neuen Gesetze oftmals nur eine untergeordnete Bedeutung zu haben. Viel wichtiger sind „Herzensangelegenheiten“ der Koalitionäre. Auch eine angemessene Wirksamkeitsüberprüfung neuer oder geänderter Gesetze scheint niemanden zu interessieren. Hauptsache das neue Gesetz ist endlich verabschiedet und das Ver-sprechen an die eigene politische Klientel eingelöst.

Wenn unser Land weiter nach diesem Prinzip regiert wird, und der Souverän nicht eine angemessene, professionelle Regierungsarbeit einfordert, dann bleibt es dem Zufall überlassen, ob Deutschland auch in Zukunft eine führende Rolle in Europa und der Welt spielen wird. Die Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens sowie die harmonische und nachhaltige Transformation unserer Gesellschaft bleiben dabei höchstwahrscheinlich „auf der Strecke“.

Wie können wir unser Wirken verbessern und an neue Herausforderungen anpassen?

Neben guten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hängt die kollektive Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft davon ab, wie motiviert und leistungsbereit die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ist. Sollten zu viele das Gefühl bekommen, dass sich Leistung nicht lohnt, dann bekommt das Gemeinwesen ein Problem. Die Bereitschaft, Leistung für sich selbst und andere zu erbringen, sowie not-wendige gesellschaftliche Veränderungen aktiv mitzugestalten, ist zur Herstellung eines nachhaltigen Gemeinwohls unerlässlich.

Aus diesem Grund dürfen bürokratische Hürden nicht so hoch sein, dass die Leistungsbereitschaft signifikant sinkt. Diesen Zu-stand haben wir in Deutschland und Europa aber längst erreicht. Und weder die EU noch die Bundesregierung scheinen in der Lage zu sein, dem jahrzehntelang aufgebauten Bürokratie-Irrsinn entgegenzuwirken. Die Regierenden unterschiedlicher Couleur haben es in den zurückliegenden Jahrzehnten nicht geschafft, ihr Wirken da-rauf zu beschränken, einen tragfähigen gesellschaftlichen Rahmen zu schaffen, in dem freie kreative Menschen ihre verschiedenen Lebensentwürfe verwirklichen können. Stattdessen wurde versucht, Menschen mit Vorgaben und Verboten in eine bestimmte Lebensführung zu dirigieren. Für mich sieht es so aus, als hätte es in den vergangenen Jahren mehr und mehr Personen in politische Ämter gedrängt, deren Handeln von einer persönlichen idealtypischen Weltsicht geprägt ist, die den anderen, unwissenden Menschen auf-gezwungen werden soll. Diese Haltung ist missionarisch und teilweise sogar fanatisch. Mit dieser Haltung kann keine verantwortungs-volle Regierungsarbeit geleistet werden, die darauf bedacht sein muss, Interessen auszugleichen und ein Gemeinwohl zu realisieren, das diese Bezeichnung verdient.

Eine Transformation der Gesellschaft, die gegen erhebliche Widerstände der Interessengruppen erzwungen wird, kann nicht nach-haltig sein, da sie dauerhaftes Konfliktpotential in sich birgt. Gesellschaftliche Veränderungen müssen sich organisch vollziehen und von der breiten Mehrheit der Menschen getragen werden. Momentan sehe ich leider viele Hürden für einen organischen Wandel. Dabei ist die Transformation unseres Gemeinwesens unerlässlich. Die Geschwindigkeit der technischen, ökologischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen treibt uns und lässt uns wenig Raum für maßvolle Reaktionen. Die Herausforderung ist es, unter diesen Umständen trotzdem nicht das Maß zu verlieren. Diese Weisheit und Gelassenheit traue ich den aktuell regierenden Personen und vielen Teilen unserer Gesellschaft allerdings nicht zu.

Unsere Gesellschaft ist weit davon entfernt, bewusst Zukunft zu gestalten. Technische, medizinische und ökologische Entwicklungen stellen die Auffassungsgabe der meisten vor große Probleme. Sorgsam die Chancen und Risiken dieser Entwicklungen abzuwägen und angemessen darauf zu reagieren, erscheint kaum noch möglich. Umso wichtiger wäre es, aus politischen Entscheidungsprozessen Ideologie und Übereifer herauszuhalten. Den klugen Interessenausgleich in Deutschland und Europa halte ich für den Schlüssel zu weitsichtigen Entscheidungen und nachhaltigen Entwicklungen.