Wir sind ein Gemeinwesen, das sich als ein „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ versteht, in dem „alle Staatsgewalt“ vom Volke ausgeht. Die formale Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ist in unserem Grundgesetz (GG) festgeschrieben. Den Artikeln 1 bis 19 des GG kommt eine besondere Bedeutung zu, da in ihnen die Grundrechte und die Werte formuliert sind, die unser Selbstverständnis ausmachen sollen.
Das Grundgesetz ist geprägt von den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und von dem Willen, einen vergleichbaren politischen und gesellschaftlichen Zustand in Deutschland nicht noch einmal zuzulassen. Daher spiegeln die Grundrechte meines Erachtens ein idealisiertes Zielbild für unsere Gesellschaft wider. Ein Ideal, das 1948 formuliert wurde.
Seitdem ist viel passiert in Deutschland, Europa und der Welt. Aber an eine breite, lebendige gesellschaftliche Auseinandersetzung mit unseren Grundrechten und den daraus resultierenden Rechten und Pflichten für die Bürgerinnen und Bürger kann ich mich nicht erinnern. Zumindest habe ich nicht den Eindruck, dass die politischen Entscheidungsträger eine offene gesellschaftliche Auseinandersetzung mit unserem Grundgesetzt fördern.
Gewiss hat sich das gesellschaftliche Zielbild unabhängig von den Werten, die in den Grundrechten zum Ausdruck kommen, in den letzten Jahrzehnten verändert, und es verändert sich fortlaufend. Aus diesem Grund halte ich die Frage, ob ein verändertes gesellschaftliches Zielbild Auswirkungen auf unser Grundgesetz haben muss, für wichtig. Diese Frage sollte wiederkehrend gestellt und nicht allein von Parlamentariern und politischen Parteien beantwortet werden, sondern von uns allen.
Die Persönlichkeitsrechte sind in den letzten Jahrzehnten gestärkt worden. Das waren wichtige Schritte, die das Grundrecht auf Schutz der Persönlichkeit sinnvoll flankiert haben. Die Förderung des Eigensinns kann aber auch zu einer Beeinträchtigung des Gemeinsinns führen. Mit kommt es so vor, als würde der Ausgleich zwischen diesen beiden Interessen nicht immer gelingen. Den Anteil derer, die sich unserem Gemeinwesen in besonderer Weise verpflichtet fühlen, halte ich für überschaubar.
Dem ermordeten US-Präsidenten John F. Kennedy wird das Zitat zugeschrieben:
„Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst.“
Wie viele von uns haben ein echtes „Volksempfinden“? Damit meine ich nicht den Stolz darauf, Deutsch zu sein. Ich meine das gemeinschaftliche Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwesen, von dem jede und jeder ein Teil ist. Treibt uns die Frage um, was wir dafür tun können, dass unsere gesellschaftlichen Werte lebendig werden und bleiben? Fühlen wir uns persönlich für das Gemeinwohl (mit-)verantwortlich? Streben wir persönlich die weitere Annäherung an unser gesellschaftliches Zielbild an? Begreifen wir die Grundrechte als Ausdruck unserer eigenen Wertvorstellung? Le-gen wir Wert auf eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit unseren Werten und Zielen? Würden wir uns an solchen Debatten beteiligen oder es doch lieber der „politischen Elite“ überlassen, sich zu den Grundsatzfragen Gedanken zu machen?
Wie ist beispielsweise die Grundgesetzänderung vom 01.07.2022 zu bewerten, mit der der Bund ermächtigt wurde, „zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit (…) ein Sondervermögen für die Bundeswehr mit eigener Kreditermächtigung in Höhe von ein-malig bis zu 100 Milliarden Euro (zu) errichten?“ (GG Art 87a Abs (1a)).
Einhundert Milliarden Euro bezahlt selbst eine gesunde Volkswirtschaft nicht aus der Portokasse. Darüber hinaus haben Ausgaben für die „Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit“ nicht nur einen materiellen Aspekt. Der Verwendungszweck berührt in besonderem Maß auch unsere ideellen Werte. Welche Priorität geben wir als Gesellschaft der Herstellung und dem Erhalt unserer Verteidigungsfähigkeit mit militärischen Mitteln? Sind die 100 Milliarden Euro plus der jährlich bereitzustellenden Finanzmittel von 2% unseres Bruttoinlandsprodukts (BIP) die angemessene Summe für den in Art 12a GG unterstellten „Verteidigungsfall“? Ist diese Summe zu hoch oder zu niedrig? Wollen wir als Souverän über die Verwendung dieser Mittel mitentscheiden oder zumindest besser darüber informiert werden? Halten wir die Grundgesetzänderung für richtig oder nicht, oder ist sie uns einfach nur egal?
Welche Legitimierung die deutsche Regierung für ihr Handeln benötigt, das ist im GG festgeschrieben. Mir fehlt aber eine wiederkehrende Überprüfung und Bestätigung dieser Festlegungen. Ist die „Hürde“ der Zweidrittelmehrheiten im Bundestag und im Bundesrat für Grundgesetzänderungen in jedem Fall ausreichend? Sind diese Parlamente ausreichend repräsentativ, um die Meinung und den Willen der Gesellschaft auch für solche Maßnahmen vertreten zu können, die dazu geeignet sind, das Gemeinwesen und das gesellschaftliche Zielbild spürbar zu verändern? Werden von den sog. Volksvertretern vor parlamentarischen Entscheidungen in angemessener Weise die möglichen gesellschaftlichen Konsequenzen hinterfragt, oder sollten bei solchen Fragestellungen künftig auch Volksentscheidungen in Betracht gezogen werden?
Das kollektive Kopfschütteln für politische Entscheidungen ist die harmloseste Unmutsäußerung von Bürgerinnen und Bürgern. Demonstrationen, die in gewalttätigen Auseinandersetzungen münden, sind weder harmlos noch selten heutzutage. Führende Amts-träger warnen vor Gefahren für unsere Demokratie. Selbstkritische Analysen und überzeugende Maßnahmen, die diese Risiken minimieren könnten, sind von denselben Personen allerdings kaum zu vernehmen.
„Diversität“ ist aktuell ein Qualitätsmerkmal für Organisationen und Gesellschaften. Divers beschränkt sich aber nicht nur auf Hautfarbe, Geschmack, Lebensentwürfe oder Mode, divers sind auch die Wertvorstellungen der Menschen, die unsere heutige Gesellschaft bilden. Und aus unterschiedlichen Wertvorstellungen er-geben sich verschiedene Interessen. Diese verschiedenen Interessen stehen in unserem Gemeinwesen momentan unausgeglichen neben-einander. Aus dieser Unausgeglichenheit resultieren meines Erachtens die Spannungen, die zu der Einschätzung führen, dass unsere Demokratie gefährdet sei.
Für mich bedeutet das, dass eine offene Auseinandersetzung mit unserem Selbstverständnis als Gesellschaft und unserem gesellschaftlichen Zielbild unausweichlich ist. Und am Ende dieser Auseinandersetzung müssen wir entweder beides – Selbstverständnis und Zielbild – an die Realitäten in unserem Land anpassen, oder wir müssen mehr dafür tun, dass unsere bestätigten Werte von einer breiten Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger verstanden, unterstützt und aktiv getragen werden.
Ausdruck unseres Selbstverständnisses als Gesellschaft ist unsere Kultur. Es ist allerdings auffällig, dass wir den Begriff "Kultur" überwiegend auf die "Schönen Künste" reduzieren. Derart eingegrenzt sind nur die Künstler "Kulturschaffende" und ein großer Teil unserer Gesellschaft ist ausgegrenzt, hat mit Kultur nichts zu tun. Das ist meines Erachtens falsch, weil wir alle Kulturschaffende sind: wir schaffen zusammen die Kultur, die unser Gemeinwesen auszeichnet. Unsere Werte und Normen, unsere Gesetzgebung, unsere Städte und unsere Kulturlandschaften, unsere Sprache, die Art, wie wir denken, mitfühlen und miteinander umgehen - unsere gesamte Lebensführung macht unsere gemeinsame Kultur, und ist Widerschein unseres Selbstverständnisses.
Vermutlich aus Angst vor dem „National-Völkischen“, das die Zeit des Nationalsozialismus geprägt hat, wurde der Stolz auf das Heimatland aus der „öffentlichen Seele“ fast vollständig verbannt. Da viele Menschen jedoch eine Sehnsucht nach einem regionalen und auch landesbezogenen „Stolz Empfinden“ haben, findet das Stillen dieser Sehnsucht im „Untergrund“ statt. Es ist uns in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gelungen, einen adäquaten Ersatz für den unerwünschten Nationalstolz zu erschaffen. Mit den Grundrechten wurden Wertvorstellungen formuliert, die unseren Gemeinsinn ausmachen sollen. Wir haben es aber nicht verstanden, für diese Werte ein breites Selbstverständnis in der Gesellschaft zu verankern. Die Grundrechte werden gern als persönliches Schutzrecht in Anspruch genommen. Die persönliche Pflicht, die es bedeutet, diese Grundwerte mit Leben zu erfüllen, wird eben-so gern ignoriert.
Würden wir in unserem Land eine Kultur des Miteinanders erschaffen, die auf einem breiten und tiefen Bewusstsein unserer im Grundgesetzt formulierten Grundwerte basiert, dann könnten wir wieder ohne Scham Stolz empfinden.
Davon sind wir meines Erachtens aber weit entfernt. In den Jahren der Corona-Pandemie haben wir erlebt, dass Grundrechte kurzerhand beiseitegeschoben werden. Das Verhalten in der Corona-Pandemie ist beispielhaft für Krisenzeiten. Die deutsche Gesellschaft von heute ist geprägt von persönlichen Verlustängsten und Verzagtheit. Einen echten Gemein-sinn kann ich nicht erkennen. Schlimmer noch: aus Angst vor "dunklen Mächten" oder Krankheit und frühem Tod nehmen wir Einschränkungen unserer Freiheitsrechte und immer weitreichendere Überwachungsmaßnahmen in Kauf. Unser Misstrauen richtet sich gegen seriöse Fachleute, nicht jedoch gegen Personen und Institutionen, die uns zweifelhafte Sicherheitsversprechen geben.
Mir erscheint unsere Gesellschaft seltsam unaufgeklärt, unreif und unselbständig. Es lassen sich viele Anzeichen von Überforderung erkennen. Selbst in den Nachrichtenmedien, die immer häufiger Meinung statt Information verbreiten, ist Verunsicherung zu spüren, die Unsachlichkeit begünstigt.
Leider habe ich den Eindruck, dass die aktuellen Herausforderungen, vor die wir durch die Fluchtbewegungen, durch die Auswirkungen der Pandemie, durch Krieg, Umweltkatastrophen und soziale Verwerfungen gestellt werden, eine grundlegende Beschäftigung mit unserer Kultur und der Frage, welche Kultur wir miteinander gestalten und leben wollen, verhindern werden. Die Sehnsucht nach "Normalität" und nach einfachen Lösungen erscheint mir so groß, dass ich befürchte, sie wird auch weiterhin unsere Aktivität und unsere Passivität bestimmen.
Ein breiter und stabiler Gemeinsinn lässt sich nur durch ein allgemein akzeptiertes, tragfähiges und nachhaltiges gesellschaftliches Zielbild, verbunden mit einvernehmlichen Wertvorstellungen erreichen. Ich bin überzeugt davon, dass die weitere Entwicklung unseres Gemeinwesens davon abhängt, ob wir einen entsprechen-den Gemeinsinn erschaffen können oder nicht. Ohne diesen Gemeinsinn, werden die vielfältigen persönlichen und gesellschaftlichen Interessen auch weiterhin unausgeglichen nebeneinanderstehen und zu inneren und äußeren Konflikten führen. Und Konflikte, deren Eskalation nicht verhindert wird, können sich zu Krieg und Vernichtung auswachsen.