Die Gesamtbewertung unseres Gemeinwesens sollte weder von der amtierenden Regierung noch von Berufspolitikern durchgeführt werden. Ich sehe die systematische Gesamtbewertung unseres Gemeinwesens als Aufgabe für einen „Bürgerrat“, der sich aus sach-kundigen Vertreterinnen und Vertretern der wesentlichen Interessengruppen zusammensetzt. Dieser Bürgerrat wirkt unter Federführung des Bundespräsidenten und des Bundespräsidialamtes. Beim Bundespräsidenten ist diese Aufgabe bereits heute verankert:
„Im Gegensatz zu den Bundesministerien, die in Reihen der Bundesregierung jeweils nur für bestimmte Teilgebiete der Politik und Verwaltung zuständig sind, befasst sich das Bundespräsidialamt entsprechend den Aufgaben und Befugnissen des Bundespräsidenten mit allen Bereichen der Politik. Hierzu beobachtet und analysiert es die wesentlichen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Es erarbeitet für den Bundespräsidenten Konzeptionen und Denkanstöße, die er in Reden, Gesprächen und Veranstaltungen zur Diskussion stellen kann."
Die „rechts- und verfassungswahrende Kontrollfunktion seines Amtes“ sollte die systematische Überprüfung der Angemessenheit, Integrität und Wirksamkeit des Gemeinwesens als sozio-ökonomisches System beinhalten, denn diese dient auch der Bewertung, ob Recht und Verfassung gewahrt sind und gewahrt bleiben. Risiken für das gesellschaftliche Gefüge könnten viel schneller erkannt und durch gezielte Maßnahmen minimiert werden, als es heute der Fall ist. Die einzelnen Indikatoren zur „Lage der Nation“, wie z. B. der Verfassungsschutzbericht, die Statistiken zur Kriminalitätsentwicklung, das Bruttosozialprodukt, der Geschäftsklimaindex und viele andere würden nicht einzeln betrachtet werden, sondern mit ihren Wechselwirkungen als Einflussfaktoren auf das Gesamtsystem. Dadurch können gezielt Verbesserungsmaßnahmen für die dringenden Probleme definiert werden, damit es durch das Fest-legen falscher Schwerpunkte nicht zu erheblichen Störungen oder – im schlimmsten Fall – zu einem Systemversagen kommt.
Die Verbesserungsmaßnahmen, die mit diesem Bewertungsverfahren abgeleitet werden, müssen nicht zwingend die Projekte sein, die in einem Koalitionsvertrag stehen. Aus diesem Grund muss der Bundespräsident auch die Befugnis erhalten, politische Verbesserungsziele zu setzen, die von der amtierenden Regierung vorrangig zu erreichen sind. Das wäre eine präsidiale Richtlinienkompetenz zur nachhaltigen Wahrung des Gemeinwohls, kein Eingriff in die operative Arbeit der Regierung. Der Bundespräsident würde Anforderungen an die Regierung stellen, die sie mit ihren Mitteln erfüllen muss. Der Bürgerrat würde unter Federführung des Bundespräsidenten die Erfüllung überprüfen und ggf. Nachbesserungen einfordern können. Konzepte und Denkanstöße sollte der Bundespräsident wie gewohnt in Veranstaltungen zur Diskussion stellen. Dar-über hinaus sollte er aber über die Befugnis verfügen, politische Korrekturen und Verbesserungen verbindlich einzufordern, bevor es zu einer ernsten Schieflage des Gemeinwesens kommt, die einen weitreichenden, von der Verfassung vorgesehenen „Not-Eingriff“ des Bundespräsidenten notwendig macht: die Auflösung des Parlaments.