Am 28. Oktober 1969 versprach Willy Brandt in einer bemerkenswerten Rede:
„Wir wollen mehr Demokratie wagen!“
Er sprach davon, dass die Regierenden nicht „Erwählte, sondern Gewählte“ seien, und beschwor eine „Solidarität, die sich in Kritik äußert“. Besondere Erwartungen verband er mit der Generation, die nicht die „Hypothek“ der Kriegsjahre spüre. Von ihr erhoffte sich Willy Brandt ein demokratisches Engagement, dass die Regierung trägt. Gleichzeitig mahnte er jedoch, dass eine „außerordentliche Geduld im Zuhören“ erforderlich sei.
Der Generation ohne die Hypothek der Kriegsjahre gehöre ich an. Und ich frage mich, was wir aus unserem Recht auf Selbstbestimmung und dem Auftrag, mehr Mitbestimmung in unserer Gesellschaft zu leben, gemacht haben.
Im Jahr 2024 halten viele Menschen die Demokratie für gefährdet. Dabei wird diese vermeintliche Demokratiegefährdung zumeist einer als äußerst rechts bezeichneten Gesinnung zugeschrieben. Die Sorge um unsere freiheitlich liberale Demokratie teile ich zum Teil. Eine Hauptgefährdung durch Personen, die der menschenverachtenden Ideologie der Nationalsozialisten im sog. Dritten Reich nahestehen, unterstelle ich allerdings nicht. Vielmehr verorte ich die eigentliche Gefährdung mitten in unserer Gesellschaft. Eine Gefährdung, die von allen ausgehet, die nicht in der Lage sind, echte Demokratie auszuhalten. Von Menschen, die ihre Meinung über die Meinung anderer stellen. Von Menschen, die selbstgefällig eine moralische Überlegenheit für sich reklamieren. Von Menschen, die bereit sind, Macht über solche auszuüben, die auch andere Wege für gangbar halten.
Von der „Geduld im Zuhören“ sind wir meines Erachtens weit entfernt. Und die „Solidarität, die sich in Kritik äußert“ wird von den Regierenden mehr und mehr als Bedrohung, denn als Geschenk angesehen. Leider scheinen sich viele der Gewählten tatsächlich für erwählt zu halten.
Wir sollten mehr Ratio wagen!
Jegliche Ideologie, jegliche Form von Religiosität, jedwede Hybris haben in der politischen Gestaltung unserer Gesellschaft und der Herstellung eines als fair und angemessen empfundenen Gemeinwohls nichts zu suchen. Wir brauchen Menschen, die bereit sind, unterschiedliche Interessen ernst zu nehmen, und die willens sind, einen wirksamen gesellschaftlichen Interessausgleich herbeizuführen.
Ein „Weiter so!“ nach den abgenutzten politischen Ritualen der letzten Jahrzehnte reicht nicht aus. Es reicht nicht aus, im Februar 2025 eine neue Regierung zu wählen, die nach alten Verhaltensmustern weitermacht. Es reicht nicht aus, Steuergeld anders zu verteilen. Es reicht nicht aus, Bürokratieabbau zu fordern, aber mit immer weitreichenderen Bestimmungen in persönlichste Freiräume vorzudringen. Es reicht nicht aus, unter dem Deckmantel von Umwelt- und Klimaschutz einseitig umstrittene technische Lösungen zu fördern. Es reicht nicht aus, innere Sicherheit zu predigen, und die äußere Sicherheit zu vernachlässigen. Das alles reicht nicht aus, und noch viel mehr.
Wir müssen mehr Ratio wagen, wenn wir den immensen ökologischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen gerecht werden wollen. Und wir müssen echte Demokratie leben und pflegen.
Dafür brauchen wir die außerordentliche Geduld im Zuhören und die Solidarität, die sich in Kritik äußert. Beides wünsche ich uns für das kommende Jahr!